Künstliche Intelligenz in der Pharmaindustrie

Von Iva Fedorka.

Die Pharmaindustrie setzt ihr Vertrauen in Künstliche Intelligenz (KI). Sie hofft, dass mit KI der Arbeitsaufwand reduziert, zeitliche Abläufe verkürzt, Möglichkeiten zur Neuverwendung von Medikamenten identifiziert, die Produktivität der Industrie verbessert und klinische Studien erfolgreicher durchgeführt werden können.

Die Erforschung und Entwicklung eines einzigen Medikaments kann mehr als ein Jahrzehnt dauern und kostet durchschnittlich 2,8 Milliarden USD. Trotz des enormen Zeit- und Ressourcenaufwands scheitern nach wie vor neun von zehn Medikamenten in klinischen Phase-2-Studien und werden nie zugelassen. Durch die zunehmende Datendigitalisierung im Pharmasektor werden KI-Tools und Netzwerke interessant, die menschliche analytische Denkprozesse nachahmen und so programmiert werden können, dass sie interpretieren, „lernen“ und „intelligente“ Entscheidungen treffen können.

Entwicklung der Anwendung von Künstlicher Intelligenz in der Pharmaindustrie

Pioniere in den 50er-Jahren sprachen von Maschinen, die fühlen, argumentieren und denken können wie Menschen. Der rasante Anstieg der Computer-Rechenleistung, immense Datenmengen und Fortschritte in der Algorithmenentwicklung haben seitdem das sogenannte Maschinelle Lernen (ML) deutlich verbessert. Diese Form der KI ist aufgabenorientiert, unterstützt Analysen, versteht und generiert Text und Sprache (Natural-Language-Processing) und ahmt tatsächlich die menschliche Denkweise nach.

Mehr als 50 Jahre später, am 12. Juni 2007, identifizierte der Roboter Adam erfolgreich die Funktion eines Hefe-Gens. Adam durchsuchte öffentliche Datenbanken und entwickelte Hypothesen zu Genen, die für Schlüsselenzyme in der Hefe Saccharomyces cerevisiae kodieren. Bei der Prüfung dieser Hypothesen fanden die Forscher neun Gene, die neu und korrekt identifiziert worden waren. Nur eines war falsch.

„Roboter-Forscher mit KI können mehr Wirkstoffe und Substanzen mit höherer Genauigkeit und Reproduzierbarkeit testen und Untersuchungen umfassend und durchsuchbar aufzeichnen“, sagte der Systembiologe Steve Oliver von der Universität Cambridge, ein Mitglied der Entwicklergruppe von Adam. Einige Zeit später gab dasselbe Team bekannt, dass Adams Kollegin Eva eine mögliche neue Behandlung für arzneimittelresistente Malaria-Erreger entdeckt hatte.

„Wir stellen das Paradigma der Arzneimittelforschung auf den Kopf, indem wir patientenbezogene Biologie und Daten nutzen, um vorausschauendere Hypothesen abzuleiten“, sagte Niven Narain.

Erfolgsgeschichten

Forscher des Biotechnologieunternehmens Berg in der Nähe von Boston, Massachusetts, USA, suchten mithilfe von KI nach potenziellen Therapien basierend auf Krankheitsursachen. Sie untersuchten mehr als 1.000 Krebszellen und gesunde menschliche Zellproben, variierten die Wachstumsbedingungen und bestimmten anschließend die Zellproduktion und den Output der Zelle. Die KI-Analyse zeigte die Hauptunterschiede zwischen kranken und gesunden Zellen unter Einbeziehung biologischer und Outcome-Daten von Patienten.

„Wir stellen das Paradigma der Arzneimittelforschung auf den Kopf, indem wir biologische Patientenfaktoren und Patientendaten nutzen, um aussagekräftigere Hypothesen aufzustellen, anstatt die übliche Trial-and-Error-Methode zu verfolgen“, sagte Niven Narain, Mitbegründer, Präsident und CEO von Berg. Sein Team nutzte den Ansatz, um spezifische Moleküle des Krebsstoffwechsels zu identifizieren und zu bestimmen, wie ein neues Krebsmedikament wirken würde. Das Medikament (BPM31510) befindet sich aktuell in einer klinischen Phase 2-Studie für Patienten mit fortgeschrittenem Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das Unternehmen nutzt das gleiche KI-System, um Zielmoleküle und Therapien für Diabetes, Parkinson und andere Krankheiten zu finden.

Das in London ansässige Unternehmen BenevolentAI verfügt über eine cloudbasierte KI-Plattform, die Daten aus Forschungsarbeiten, Patenten, Patientenakten und klinischen Studien analysiert. Die Datenbank enthält über eine Milliarde dokumentierte oder abgeleitete Beziehungen zwischen Genen, Symptomen, Krankheiten, Proteinen, Gewebe, Spezies und Medikamenten. Sie wird wie eine Suchmaschine verwendet und kann Abbildungen zu Erkrankungen, damit in Verbindung stehenden Genen und wirksamen Arzneimitteln erzeugen. „KI kann all diese Daten in einen Kontext setzen und die wichtigsten Informationen für Wissenschaftler in der Arzneimittelforschung aufzeigen“, so Jackie Hunter, Vorstandsmitglied der BenevolentAI.

Als BenevolentAI gebeten wurde, Behandlungsmöglichkeiten für die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) vorzuschlagen, ermittelte das Unternehmen etwa hundert bestehende Wirkstoffe mit Potenzial. Fünf davon wählten die Wissenschaftler für Untersuchungen am Sheffield Institute of Translational Neuroscience, VK aus. Auf dem Internationalen Symposium zu ALS/MND im Dezember 2017 in Boston, Massachusetts, USA, wurde berichtet, dass vier der Wirkstoffe sich als vielversprechend erwiesen hätten und einer sogar die neurologischen Symptome bei Mäusen verzögere.

Es wird davon ausgegangen, dass das Potenzial der KI, bisher unbekannte Krankheitsursachen aufzuspüren, den Trend zu Behandlungen beschleunigen wird, die für Patienten mit spezifischen biologischen Profilen entwickelt werden. Laut Hunter „wird schon lange über personalisierte Medizin gesprochen. Mit KI kann sie Realität werden.“

Zukunftsaussichten

Die KI hat bereits gezeigt, dass sie in der Lage ist, die Pharmakokinetik, Zielrezeptoren, physikochemischen Eigenschaften, Löslichkeit, Bindungsaffinität, Bioaktivität, Toxizität und andere Merkmale eines Medikaments vorherzusagen, die seine Wirksamkeit beeinflussen.

Branchenführer sind sich einig, dass der Einsatz von KI die Verfahren in der Arzneimittelforschung verändern kann. Einige Experten gehen davon aus, dass zukünftige Studenten ein Verständnis von Biologie in Verbindung mit Informatik, Statistik und maschinellem Lernen benötigen werden. Einige Universitäten haben bereits Bachelor-Studiengänge für biomedizinische Berechnungen eingerichtet, auch wenn sich die Nachfrage nach diesen Abschlüssen mit dem Entstehen neuer Therapien ändern kann.

Andere wiederum sind der Ansicht, dass Vorhersagen über die Fähigkeit der KI, die Arzneimittelforschung zu revolutionieren, zu optimistisch sind. Narain, der von großen Fortschritten im Bereich der KI ausgeht, bestätigt, dass die Behauptungen vielleicht übertrieben seien, es aber nicht lange dauern werde, bis sie bewiesen oder widerlegt würden. „Der Hype kann nicht sehr lange anhalten, denn ungefähr in den nächsten fünf Jahren wird die Wahrheit mit den Daten ans Licht kommen“, sagte er. „Wenn wir bis dahin wirksamere Medikamente herstellen, und das schneller und billiger, dann startet die KI wirklich durch.“

Dieser Beitrag basiert auszugsweise auf „How artificial intelligence is changing drug discovery“, Nature, 30. Mai 2018; „Transforming Drug Discovery Through Artificial Intelligence“, Forbes, 3. März 2020; und „Artificial intelligence in drug discovery and development“, Drug Discovery Today, 26. Januar 2021.

Iva Fedorka ist bei Thermo Fisher Scientific als Content-Copywriterin tätig.

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Reference